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> Rezension: Vom Wunsch, Indianer zu werden
Focus
on Literatur Vol.2, No.1 1995, University of Cincinnati
Peter Henisch, Vom Wunsch, Indianer zu werden. Wie Franz Kafka Karl May traf
und trotzdem nicht in Amerika landete. Salzburg: Residenz, 1994, 159
Seiten.
Was Karl May und die Indianer miteinander zu tun haben, liegt auf der Hand. Wiederholt
entführte der 1842 im sächsischen Erzgebirge geborene Vielschreiber
Karl May sich und seine Leser in die Neue Welt, zu den Siedlern und Indianern.
Daß May weder Amerika noch die anderen Länder, über die er
schrieb, bereist hat, ist eine Pikanterie am Rande. Karl May war ein Reisender
des Geistes, der sich an fremde Orte fortträumte, um einer ihm unerträglichen
Welt zu entkommen. Auf diesen Streifzügen der Phantasie schuf er unter
anderem Figuren wie Winnetou, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, die, konzipiert
als Edelmenschen, gegen Schufte und Verbrecher antraten und als Sieger aus
dem Kampf zwischen Gut und Böse hervorgingen. Dies brachte May die wenig
schmeichelhafte Bezeichnung "Trivialliterat für kindliche Gemüter" ein.
Dennoch fanden die Reiseberichte, aber auch seine Romane wie "Winnetou I-IV", "Old
Surehand" oder "Der Schatz im Silbersee" bereits zu Lebzeiten Mays eine breite
Leserschaft. Franz Kafka allerdings gehörte nicht dazu. Er hat May, soweit
wir wissen, nie gelesen oder erwähnt. Auch seine Heimatstadt Prag hat
er selten, und dann nur für kurze Zeit, verlassen. Wie also sollte Kafka überhaupt
in Versuchung geraten sein, nach Amerika zu fahren? Und falls doch, was hat
Karl May damit zu schaffen?
Antwort auf diese Fragen gibt der östereichische Schriftsteller Peter
Henisch: Im September 1908 trat Kafka seine erste Dienstreise für die
Arbeiter-Unfall-Versicherung an. Diese Reise nach Böhmen ist verbürgt.
Daß Kafka anläßlich der Dienstreise den falschen Zug bestieg,
in einem tranceartigen Zustand die Grenze nach Deutschland passierte und in
Bremerhafen wieder aufwachte, um kurz entschlossen eine Schiffskarte für
den Ozeandampfer "Großer Kurfürst" Richtung New York zu erwerben,
dürfte seinen Biographen allerdings neu sein. Auf eben diesem Schiff -
dem "Großen Kurfürsten" - befindet sich auch der 66jährige
Karl May mit seiner erheblich jüngeren Frau Klara. Das Ehepaar fuhr im
September 1908 tatsächlich auf dem Passagierdampfer nach New York. Dies
war der Beginn von Karl Mays erster und einzig wirklicher Amerikareise.
Bekanntschaft machten die drei einen Tag nach Abfahrt des "Kurfürsten",
am 6. September 1908. Karl May kam gerade aus dem Zwischendeck. Hier hinab,
in den Bauch des Schiffes, war er mit Klara gestiegen, um über die katastrophalen
hygienischen Verhältnisse bei den Aussiedlern auf seiner ersten Fahrt
nach Amerika vor schätzungsweise vierzig Jahren zu fabulieren. Natürlich
hat diese Reise gar nicht stattgefunden, und das weiß auch Frau Klara,
aber wie in geheimer Übereinkunft spielt sie das Spiel mit. Karl May also
- oder vielmehr Mister Burton, denn noch reist das Ehepaar inkognito - tritt
aus dem Zwischendeck. An der Reling steht ein junger Mann. Seine Haltung nimmt
die von Charlie Chaplin am Anfang des Stummfilms "The Immigrant" vorweg. Doch
der Film wird erst in neun Jahren gedreht werden und darum entscheidet Frau
Klara, daß jetzt etwas zu tun sei. Vielleicht ist dem jungen Mann ja
nicht nur schlecht. Vielleicht will er sich, Gott behüte, ins Meer stürzen.
May schreitet zur Rettung, "tut zwei seinem Alter nicht mehr ganz gemäße
Sprünge"(9) und schleppt den jungen Mann in seine Luxuskabine, wo er ihn
mit Cognac labt.
Bald schon geht May der unbeholfene Jüngling auf die Nerven. Versunken
in seine eigene Welt, scheint der Herr Franz Kafka kaum zuzuhören, wenn
May ansetzt, seine erfundenen Amerikaerlebnisse für einen Moment Wirklichkeit
werden zu lassen. Beim Stichwort "Indianer" aber erwacht der junge Mann, der
sich eigentlich das Schreiben abgewöhnen will. Einem Impuls folgend, macht
er den Fehler, ein kurzes Stück eigener Prosa zu zitieren. Es sind dies
die sieben Zeilen des fünf Jahre später, im Jahr 1913, veröffentlichten
Textes vom "Wunsch, Indianer zu sein".
"Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde,
schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden,
bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel
wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte
Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf"(27), deklamiert der junge Kafka.
Dem alten Karl May verschlägt es beim Hören dieser Zeilen die Sprache.
So wollte er schreiben, der Phantasiereisende Karl May; so, "daß alles
Akzidentielle überflüssig wird, Steigbügel, Sattel, Zaumzeug,
letzten Endes sogar das Roß, und nur die Substanz bleibt, sozusagen der
Ritt an sich."(106) So hatte er es ein Leben lang versucht - und doch nie zustande
gebracht. Aber das teilt er Kafka erst Tage später mit. Im Augenblick ist
May verblüfft. "Wie kommen Sie", fragt er, "ausgerechnet auf diesen Indianerwunsch?" (28). "Sie
werden lachen, dieser Text ist von Karl May inspiriert."(29) antwortet Franz
Kafka. Als Bub sei er nämlich "auf ganz besondere Weise für diese Lektüre
anfällig"(29) gewesen. Nachdem er seine Identifikationsfigur Old Shatterhand
aber als Illusion erkannt hatte, verkaufte Kafka die vierundzwanzig Karl-May-Bände
und wandte sich fortan wirklicher Literatur zu. "Und was bitte ist das?" fragt
der verstimmte May, immer noch inkognito. Wirkliche Literatur erkenne man daran,
daß sie "nicht nur wohl-, sondern auch wehtue"(32), sagt Kafka. Diese Antwort
ist in ihrer Schlichtheit glänzend formuliert. Bevor hieraus jedoch eine
Literaturdiskussion entstehen kann, zieht sich Franz Kafka überstürzt
zurück.
Verständlicherweise gibt May sich damit nicht zufrieden. Er sucht den
jungen Mann im Zwischendeck auf und entführt ihn wiederholt ins first-class
Restaurant des Schiffes. So entwickelt sich eine nähere Reisebekanntschaft,
die in einem dramatischen Eklat gipfelt - einer spritistischen Sitzung. Nicht
Winnetou, nicht Christoph Columbus, sondern Kafkas Vater wird heraufbeschworen,
der seinem Sohn auf eine Weise die Leviten liest, daß der über Bord
springen will. Nur Mays berühmter Jagdhieb hält ihn davon ab. Zurück
in der Kabine des Ehepaars May, nimmt sich Klara des jungen Mannes an. Und
während Franz und Klara sich der Zweisamkeit im Bett hingeben, beflügelt
May - "zu zweit mit der Flasche"(132) - seine Phantasie mit Feuerwasser. Ab
da ist es vorbei. Die Mays gehen von Bord. Kafka unternimmt kurz vor der Landung
einen letzten Versuch, die Situation zu klären. Schon will auch er an
Land gehen, da fällt ihm ein, daß er seinen Regenschirm vergessen
hat. Er kehrt ins Schiffsinnere zurück und verliert sich im Zwischendeck
- wie Karl Roßmann in Kafkas eigenem Amerika-Roman "Der Verschollene".
Soweit die Geschichte. An ihrer wahren Begebenheit meldet auch der österreichische
Schriftsteller Peter Henisch Zweifel an. Ihm geht es um die Möglichkeit,
der er mit dem zu Beginn des Romans gewählten Konjunktiv ein von Fakten
unabhängiges Reich schafft. Henisch spielt mit dem "was wäre, wenn
...", verbindet Fiktion und tatsächliche Ereignisse, Biographie, verschlüsselte
Zitate und literarische Texte mit parodistischem Geschick zu einem schönen
Spuk. Die zunächst witzige Kolportage - junger Mann, älterer Herr
und Frau in den sogenannt besten Jahren, die sich für den einen allmählich
zu jung und für den anderen noch nicht zu alt fühlt, fahren ins Land
der unbegrenzten Möglichkeiten - wird zu einer spannenden Annäherung
an zwei literarische Persönlichkeiten.
Natürlich geht es in dem Roman um Literatur. Sein literarisches Spiel
gibt Henisch aber auch Gelegenheit, die innere und äußere Biographie
der charakterlich so unterschiedlichen Protagonisten Kafka und May zu entwickeln.
Durch den gewählten Zeitpunkt der Handlung, das Jahr 1908, verschafft
Henisch sich freie Hand. Noch gilt Karl May nicht als Großmystiker. Noch
hat das verwirrende Kafka-Deuten nicht begonnen. Frei vom Ballast der Interpretationen,
erweckt Henisch die beiden literarischen Antipoden zum Leben. Kafka stolpert
durch die Kabinen, starrt die Menschen um ihn herum mit großen Mondaugen
an, ist dauernd damit beschäftigt, seine zu langen Körperteile irgendwo
zu verstauen und sich bei jeder Gelegenheit zu entschuldigen. Ein melancholischer
junger Mann, der sich auf der Flucht vor seiner Begabung und den Zumutungen
seines Bureaugefängnisses befindet. Ein Tolpatsch mit hypochondrischen
Zügen, eben "ein neuer Typus von Clown"(32), der die Lacher nicht auf
seiner Seite hat. Karl May zeigt sich dagegen als eine Variante des Vaters.
Mit sechsundsechzig Jahren ist er ein gestandener Mann, der zu gern ein Held,
ein leuchtendes Vorbild gewesen wär. Leider steht ihm seine kriminelle
Vergangenheit im Weg. Bekanntlich saß der junge Karl May mehrfach im
Gefängnis wegen kleinerer Diebstähle und Betrügereien. So ließ May,
der sich ein Leben lang ins Reich der Edelmenschen emporsehnte, seine Figuren
zu dem werden, was er nicht sein konnte: hilfreich, edel und gut. Hierin liegt
der Keim für die spätere Identifikation des eigenen "Ich" mit seinen
Helden, die May als einen Mann ohne Realitätssinn und Erinnerungsvermögen,
aber mit unkontrollierter Traumkraft erscheinen lassen.
Trotz aller Ironie nähert Henisch sich seinen beiden Protagonisten mit
Behutsamkeit, so daß sie weder als Abziehbilder noch als Karikaturen
erscheinen. Dadurch lassen sich Gemeinsamkeiten erkennen, die bei getrennter
Betrachtung der Schriftsteller mit der Feststellung geendet hätten, daß auch
Kafka einen Amerika-Roman schrieb, ohne je in dem Land gewesen zu sein. Gemeinsam
ist ihnen aber vor allem das Grundgefühl, gefangen zu sein. Sowohl Kafka
als auch May waren aufgrund ihrer Persönlichkeit und ihrer Lebensumstände
isolierte Außenseiter. Sie fanden sich in der sie umgebenden bürgerlichen
Realität nicht zurecht und konnten nur durch Schreiben überleben.
Der eine, indem er seine Ängste, seine Schuldgefühle, sein Befremden über
die Welt in beklemmenden und zugleich befreienden Ohnmachtsschilderungen Raum
gab; der andere, indem er Welten erfand, in denen er der Dirigent war und sich
folglich mit Allmachtsphantasien erlöste.
Peter Henisch kennt sich im Leben und Werk seiner Helden aus. Insbesondere
Mays letzte und Kafkas früheste Arbeiten bilden das Spielmaterial, aus
dem sich die Gespräche, inneren Monologe und fiktiven Briefe Kafkas an
Max Brod zusammensetzen. Fast beiläufig ergibt sich aus dieser ungewöhnlichen
Begegnung auf See ein erfundenes Vorspiel zu zwei Romanen. Henisch läßt
May die Skizze seines letzen Romans "Winnetous Erben" entwerfen und die Stationen
seiner eher touristischen Amerikareise planen. Meisterstück der satirischen
Reflexion ist jedoch eine Art Literaturspiel im Literaturspiel. May ermuntert
Kafka, dessen gebrochenes Verhältnis zur Literatur ihm nicht entgangen
ist, zum Schreiben. Rein zum Zeitvertreib schlägt er ihm eine Gemeinschaftsarbeit
vor. "Wir könnten zum Beispiel so tun, als ob wir einen Amerikaroman im
Sinn hätten."(108) Wie May daraufhin Kafka das erste Kapitel des "Verschollenen" aus
der Nase ziehen muß, ist amüsant und geistreich zugleich. Kafka
allerdings weiß nicht so recht, wie ihm geschieht, geschweige denn, was
er davon halten soll. Aber offensichtlich hat er die Idee weiterverfolgt, als
er nach Prag zurückgekehrt war, in das Leben, das den Literaturwissenschaftlern
bekannt ist.
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