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> Essay: Bekenntnis zum Einzelgängertum - Hans Sahls
Exilroman
Focus
on Literatur Vol.3, No.1 1996 , University of Cincinnati
Hans Sahl. Die Wenigen und die Vielen. Roman einer Zeit. Luchterhand Lit,
1991, Roman, 285 Seiten.
Hans
Sahls autobiographischer Roman Die Wenigen und die Vielen wird, obwohl
er auch nach drei Auflagen wenig Beachtung gefunden hat, gelegentlich als der Roman
des Exils bezeichnet. Als das Buch 1959 erstmals der deutschen Öffentlichkeit
vorgestellt wurde, prophezeite Fritz J. Raddatz: "Aus solchem Stoff wird gewoben,
was schließlich eine Nationalliteratur genannt werden wird" (Skwara,
169) und Kurt Pinthus empfahl: "Sahls Buch müßte Pflichtlektüre
in Deutschlands höheren Schulen werden" (Aufbau 10). Etwas vorsichtiger
formulierte Wolfgang Koeppen: "Ein wichtiges Buch, eine ergreifend stille Stimme
aus dem Chaos, ein Bericht voll bitterer Konsequenz" (Süddeutsche Zeitung).
Anläßlich der Zweitauflage im Jahr 1977 wurde der Roman erneut besprochen.
Auch diesmal fiel die Kritik positiv aus, wenngleich eine gewisse Oberflächlickeit
bei der Begutachtung nicht abgestritten werden kann. Die Wenigen und die
Vielen wurde dem Genre der Exilliteratur zugeordnet, als bemerkenswerter
Roman bezeichnet und damit hatte es sich für die meisten Rezensenten.
Voller Superlative schreibt Erich Wolfgang Skwara zwar in seiner 1986 erschienenen
Auseinandersetzung mit Sahls Werk: "Er gilt Eingeweihten als der wichtigste,
tiefgreifenste, erhellenste, ehrlichste, gelungenste, unentbehrlichste Roman über
das deutschsprachige Exil im Dritten Reich" (Skwara 170). Die Betonung allerdings
liegt auf dem Wort "Eingeweihte". Viele Leser fand der Roman nicht, geschweige
denn, daß er zur Pflichtlektüre in Deutschlands Schulen erhoben
wurde. Fast scheint es, als sei das Buch weggelobt worden, zumal sich auch
in wissenschaftlichen Abhandlungen zur Exilliteratur selten ein Hinweis auf
Hans Sahls Werk findet. Allein Gisela Berglund widmete dem Roman in ihrer Darstellung Deutsche
Opposition gegen Hitler in Presse und Roman des Exils (1972) ein eigenes
Kapitel. Erwähnenswert ist außerdem eine Analyse von Sigrid Kellenter,
die sich mit dem Buch unter der Überschrift "Der Roman des Exils überhaupt?" auseinandersetzt.1
Hans Sahl, 1902 in Dresden geboren, gehört zu der Gruppe von Schriftstellern,
die Deutschland zu einem Zeitpunkt verlassen mußten, als ihre berufliche
Karriere gerade begonnen hatte. Er promovierte 1924 in Kunst- und Literaturgeschichte
und gehörte bis 1933 zu den jüngsten Film-,Theater- und Buchkritikern
Berlins. Sein erstes literarisches Werk, das szenische Oratorium Jemand,
erschien 1933 im Züricher Exilverlag Emil Oprecht - also schon nicht mehr
in Deutschland, denn Sahl emigrierte nach dem Reichstagsbrand in die tschechoslowakische
Hauptstadt Prag und wäre innerhalb deutscher Grenzen nicht verlegt worden.
Von Prag gelangte er über Zürich nach Paris. Bis Kriegsausbruch arbeitete
Sahl als Autor für das von Erika Mann gegründete Kabarett "Die Pfeffermühle" und
das ebenfalls in Zürich beheimatete "Cornichon", wegen fehlender Aufenthaltserlaubnisse
konnte er jedoch nur in Abständen nach Zürich reisen. Die meiste
Zeit verbrachte Sahl in Paris.
Wie viele deutsche und österreichische Flüchtlinge wurde er 1939
als "feindlicher Ausländer" verhaftet und im Internierungslager Le Ruchard
festgehalten. Gemeinsam mit den französischen Wachmannschaften flohen
die Internierten im Juni 1940 vor der deutschen Wehrmacht Richtung Südfrankreich.
Sahl erreichte Marseille und arbeitete dort für den Amerikaner Varian
Frey, der im Auftrag des "Emergency Rescue Committee" versuchte, politisch
Verfolgte (meist illegal) aus der "Mausefalle Marseille" über die französische
Grenze nach Lissabon zu schleusen, von wo aus sie, ausgestattet mit echten
oder falschen Visa, ein Schiff in die sogenannte Neue Welt erreichen
konnten.2 Im April
1941, nach achtjähriger Flucht, überquerte auch Hans Sahl den Atlantik
Richtung New York. Hier setzte er seine Mitarbeit an Exil-Zeitschriften wie Die
neue Weltbühne, Das Neue Tagebuch oder Das Wort fort.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Sahl New Yorker Kulturkorrespondent der Neuen
Zürcher Zeitung und der Süddeutschen Zeitung, erlangte
im Nachkriegsdeutschland aber auch als Übersetzer von Thornton Wilder,
Tennesse Williams, John Osborne und Arthur Miller einen gewissen Bekanntheitsgrad.
Seine eigenen Werke, so der 1942 in New York herausgegebene Gedichtband Die
hellen Nächte, seine Erzählungen, Essays und Erinnerungsbände Memoiren
eines Moralisten (1976) sowie Exil im Exil (1990) fanden jedoch
nicht genug Leser, um eine größere Öffentlichkeit herzustellen.
Ihm erging es wie vielen, die die Nationalsozialisten im Exil überlebt
hatten und ihre Erfahrungen literarisch verarbeiteten. Sie paßten weder
in das Bild des westlichen noch des östlichen Teils Deutschlands. Man
wollte sich nicht erinnern lassen. Statt Auseinandersetzung mit der eigenen
Geschichte, vollbrachten die Deutschen eine enorme Verdrängungsleistung. "Hitler
hatte erreicht", wie Jürgen Serke schreibt, "was er 1933 mit der Bücherverbrennung
hatte erreichen wollen: eine ganze Generation mißliebiger Schriftsteller
aus dem Gedächtnis der Deutschen zu streichen" (396). Nachhaltig und über
den Zusammenbruch des "Dritten Reiches" hinaus, denn die Wiederentdeckung dieser
Literaturperiode blieb auch nach 1945 aus.
Die Verlagsgeschichte von Hans Sahls Roman Die Wenigen und die Vielen ist
ein Beispiel für diese Verdrängungsleistung. Geschrieben in der Zeit
von 1933 bis 1946, fand Sahl erst elf Jahre nach Fertigstellung des Manuskripts
einen Verleger. Das Verlagshaus Houghton Mifflin in Boston, das ihm 1942 eine
Veröffentlichung zugesagt hatte, zeigte nach Beendigung des Krieges kein
Interesse mehr an einem deutschsprachigen Roman über die Exilzeit. In
der Hoffnung, das Manuskript in Deutschland unterzubringen, wandte sich Sahl
an verschiedene deutsche Verlage. Insgesamt zehn Verlagshäuser, S. Fischer
anfangs mit eingeschlossen, schickten den Roman zurück. Die Begründung
für die Ablehnung war fast immer die gleiche: für dieses Thema sei
es noch zu früh oder schon zu spät. Fischer nahm das Manuskript erst
1957 an und brachte es 1959 auf den Markt. Doch offensichtlich war es auch
im Jahr 1959 noch zu früh für den einzigen Roman des Übersetzers
und Lyrikers Hans Sahl. Auf dem Höhepunkt der Adenauer-Ära, mitten
im Wirtschaftswunder und der "Wir sind wieder wer"-Stimmung, nützten selbst
die hervorragenden Besprechungen namhafter Rezensenten wie Fritz J. Raddatz,
Wolfgang Koeppen, Hans Egon Holthusen, Wolfdietrich Schnurre und Kurt Pinthus
nichts. Ganze neunhundert Exemplare verkaufte der S. Fischer-Verlag und bald
galt das Buch im Handel als "vergriffen".
Unter dem Titel The Few and The Many wurde der Roman 1962 ins Englische übersetzt.
Die französische Ausgabe Le troupeau perdu folgte 1964, blieb aber
auch in Frankreich nicht mehr als ein Achtungserfolg. Doch Hans Sahl gab nicht
auf. Er kämpfte für eine Neuauflage, die diesmal siebzehn Jahre auf
sich warten ließ. Schließlich veröffentlichte der Goverts-Verlag
den Roman 1977 ein zweites Mal. Auch diesmal ohne nennenswerten Erfolg. Weder
die Buchhändler noch das Lesepublikum nahmen das Buch zur Kenntnis und
es wurde erneut verramscht. Weitere vierzehn Jahre später, im November
1991, erschien der Roman in dritter Auflage beim Luchterhand Literaturverlag,
der neben den Memoiren, einer Gedicht- und einer Essaysammlung in der Zwischenzeit
auch die Rechte an diesem Manuskript erworben hatte.
Roman einer Zeit untertitelte Sahl seine Erzählung Die Wenigen
und die Vielen. In ihr beschreibt er das Leben im Exil von 1933 bis 1945
und wagt eine Zeitdiagnose, die an den Erlebnissen eines zwar betont distanzierten,
aber doch involvierten Ichs festgemacht wird. Die Rahmenhandlung setzt 1941
ein. Der Erzähler Georg Kobbe befindet sich bereits in New York, seiner
letzten Exilstation. Von hier aus berichtet er, blickt zurück, erinnert
sich, läßt Tagebuchaufzeichnungen für sich sprechen, findet
zurück in seine Gegenwart, und begibt sich erneut auf die Irrfahrt durch
das Europa der dreißiger Jahre.
Zahlreiche Erzählebenen und häufiger Perspektivenwechsel verhindern
eine durchlaufende Handlung. Bewußt setzt Sahl das Fragmentarische als
die einer zersplitterten, zusammenhanglosen Zeit gemäße Form ein. "Ich
hielt die Form des Fragments für die einzig mögliche, um eine Zeit
des Fragments darzustellen," schrieb er kurz nach Erscheinen der zweiten Auflage
des Romans.3 Doch
schon seinen Erzähler Kobbe, Schriftsteller wie er selbst, ließ Sahl
eine ähnliche Aussage treffen. "Gleich werde ich wieder aufstehen und
in den Papieren blättern, die ich von drüben mitgebracht habe - Notizen
aus dem Lager, Tagebuchaufzeichnungen, Briefe - dies alles ohne Zusammenhang,
fragmentarisch wie das Leben, das ich geführt habe" (66), berichtet dieser,
während er sich müht, den Roman seiner Zeit zu schreiben. Einen Roman,
der "keinen Anfang und kein Ende" hat und von dem Kobbe glaubt, er könne
nichts sein als "ein Wurf ins Ungewisse, aus dem Nichts kommend und wieder
ins Nichts mündend, ein Ausruf der Verwunderung, zwischen zwei Fragezeichen
gesetzt" (272).
Der fragmentarische Charakter läßt Die Wenigen und die Vielen jedoch
formal nicht auseinanderfallen. Zur Geschlossenheit tragen die verschiedenen
rahmenartigen Elemente, Wiederholungen und Leitmotive bei, die den Leser durch
die Schilderung der Jugenderinnerungen, des Berliner Lebens kurz vor und kurz
nach der Machtergreifung, der Flucht über Prag, Amsterdam, Paris, Marseille
und Madrid sowie des problematischen New Yorker Asyls begleiten. Der Roman
endet vier Jahre später - dort, wo er begonnen hat. Der Krieg ist vorbei,
fast alle geflohenen Emigranten kehren zurück nach Deutschland, Kobbe
aber bleibt in New York.4
Im Roman Die Wenigen und die Vielen wird der Erzähler Georg Kobbe
zum Verwalter einer Zeit, die ihn nicht losläßt. Er ist Überlebender
und Berichterstatter zugleich, ein "Trödler des Unbegreiflichen", der
bereit ist, Zeugnis abzulegen über eine mit menschlichen Katastrophen
angefüllte Zeit. Dieses Selbstverständnis teilt er mit dem Erfinder
der Romangestalt. Noch in dem 1973 geschriebenen Gedicht "Die Letzten" (7),
das dem Lyrikband Wir sind die Letzten seinen Titel gab, läßt
sich dies deutlich ablesen:
Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.
Wir tragen den Zettelkasten
mit den Steckbriefen unserer Freunde
wie einen Bauchladen vor uns her.
Forschungsinstitute bewerben sich
um Wäscherechnungen Verschollener,
Museen bewahren die Stichworte unserer Agonie
wie Reliquien unter Glas auf.
Wir, die wir unsere Zeit vertrödelten,
aus begreiflichen Gründen,
sind zu Trödlern des Unbegreiflichen geworden.
Unser Schicksal steht unter Denkmalschutz.
Unser bester Kunde ist das
schlechte Gewissen der Nachwelt.
Greift zu, bedient euch,
Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig. (7)
Mit
den exemplarisch herausgegriffenen Ereignissen aus dem Leben des Erzählers
Georg Kobbe, versucht Sahl Einblick in die Atmosphäre jener Zeit zu geben
und den Einfluß des Exils auf die Persönlichkeit und das Verhalten
der zumeist aus politischen Gründen geflohenen Emigranten aufzuzeigen.
Thema ist die Machtlosigkeit der Exilierten, ihre Reaktion auf diese Erfahrung,
ihr Selbstverständnis, ihre Selbsttäuschungen, ihre politische und
geistige Entwicklung, betrachtet aus der Sicht eines Menschen, dem das Exil
zum geistigen Zustand wurde. Der Roman hat somit einen durch und durch politischen
Anspruch. Sahl selbst möchte ihn als ein Stück literarisch verarbeiteter
Weltgeschichte, aber auch als "Satire auf die linken politischen Ideologien
von gestern und ein Bekenntnis zum militanten Einzelgängertum - ja, zur
Ratlosigkeit als dem Ansatzpunkt zu einer neuen Philosophie" (Skwara 171) verstanden
wissen. Interessant ist deshalb, wie er seine Leser an dieses Bekenntis heranführt
und von seiner Botschaft zu überzeugen versucht. Um eine Antwort auf diese
Frage zu erhalten, muß zunächst die Darstellung der äußeren
Exilsituation betrachtet werden.
Als mit Hitlers Machtergreifung und dem kurz darauf folgenden Reichstagsbrand
der Massenexodus der intellektuellen Elite aus Deutschland einsetzt, scheint
sich kaum einer der Exilanten über den Ernst der Lage bewußt zu
sein. In seinem Buch Exil und Literatur schreibt Matthias Wegener: "Aus
allen Berichten der emigrierten Schriftsteller, die in den ersten sechs Monaten
nach der Machtergreifung flüchteten, geht hervor, daß nur wenige
glaubten, es werde sich um einen längeren Auslands-Aufenthalt handeln" (Wegener
44). Diesen Eindruck bestätigt Hans Sahl über seinen Berichterstatter
Georg Kobbe. Phrasen wie "In sechs Monaten ist alles vorüber" oder "Es
wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird" werden dem Leser förmlich
aufgedrängt.5 Äußerungen
wie "Außerdem war die letzte Patrone noch nicht verschossen .... Es gab
noch immer eine Hoffnung. Da war die Polizei. Da war die Reichswehr. Da war
dieses und jenes, das eine Änderung herbeiführen konnte ..." (85),
belegen, in welchem Ausmaß Hitler unterschätzt wurde. Die Verstiegenheit
der kommunistischen Partei, Hitler als einen Betriebsunfall der Geschichte
zu begreifen, "der dazu beitragen würde, den revolutionären Prozeß zu
beschleunigen" (87), akzentuiert diese Haltung noch.6
Einen sichtbaren Niederschlag finden derartige Einschätzungen in der Wahl
des Asyllandes, nämlich möglichst nahe an der deutschen Grenze. Nur
langsam setzt sich die Erkenntnis durch, daß die Rückkehr nach Deutschland
auf Jahre hinaus nicht möglich ist. Das Unvorstellbare wird Wirklichkeit
und das Exil zum Dauerzustand. Ganz gleich, ob Kobbe aus Prag, Amsterdam, Paris
oder Marseille berichtet, die einzelnen Stationen des Exils ähneln sich.
Der Kampf ums Überleben wird zur alltäglichen Lebenserfahrung. Man
lebt von einem Tag zum anderen, in einem nicht enden wollenden Schwebezustand.
Ständig bedroht von Ausweisung und Auslieferung, hängen viele Exilanten
vom Wohlwollen des Staates ab, in dem sie sich gerade befinden. Die Lebensgrundlage
ist ihnen entzogen. Sie sind auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen, auf Unterstützungskommitees
und Verwandte im Ausland. Nur wenigen gelingt es, der ursprünglichen Tätigkeit
nachzugehen und sich damit selbst zu ernähren.
Mit Ausbruch des Krieges verschlimmert sich die Lage der Vertriebenen noch.
Sie werden als Anhänger der Fünften Kolonne inhaftiert und in Lager
gesteckt. Es folgen tagelange Gewaltmärsche durch Frankreich auf der Flucht
vor der Wehrmacht. Im freien Teil Frankreichs angelangt, beginnt die verzweifelte
Jagd nach Ausreise-, Einreise- und Durchreisevisa. Wem es schließlich
gelingt, einen Schiffsplatz nach Übersee zu erstreiten, kann seine physische
Existenz zumindest für dieses Mal in Sicherheit bringen.
Hans Sahl geht es bei seiner direkt aktualitätsbezogenen Schilderung der
damaligen Gegenwart nicht um Schuldzuweisungen. Vielmehr ist er um eine ungeschönte,
möglichst getreue Wiedergabe der Exilsituation bemüht. Dies gelingt,
obwohl die Erlebnisse des Erzählers, der durch die Vorgänge in Deutschland
aus einem bis dahin normal verlaufenen Dasein herausgerissen wird, zunächst
ein einmaliges, persönliches Ereignis darstellen. Die faktischen Fluchterlebnisse
wurden jedoch von Tausenden anderen - mit geringfügigen Abweichungen - ähnlich
erfahren und gewinnen somit allgemeine Bedeutung.
Auf dieser Massenflucht verliert das Schicksal des einzelnen zunehmend an Wert. "Man
lebte, man war da - das genügte. Wer nicht da war, hatte Pech gehabt" läßt
Sahl seinen Erzähler Kobbe nüchtern feststellen und verdeutlicht
damit den verständlichen Verlust an menschlicher Anteilnahme angesichts
der akuten Bedrohung der äußeren Existenz, der sich jeder als Einzelwesen
ausgesetzt sieht (20). Abhängig von Mächten, die außerhalb
ihres Einflußbereichs liegen, um Selbstbehauptung und einen Rest menschlicher
Würde kämpfend, sind die Exilanten in zunehmenden Maße mit
ihren Gefühlen der Angst, der Verzweiflung, des Mißtrauens und des
Hasses konfrontiert. Über das faktische Erleben hinaus ergeben sich aus
der Extremsituation des Exils so spezifische Reaktionsweisen und Verhaltensmuster,
die Sahl aufzuzeigen sucht. Dadurch wiederum erlangt der Roman eine überzeitliche
Dimension, denn die Erfahrungen des Alleinseins, des Ausgesetztseins in die
Welt, der Vereinsamung und der daraus resultierenden Angst vor dem Alleinsein
sind allgemein menschliche, existentielle Erfahrungen, die an keine Zeit gebunden
sind.7 Das Exil offenbart
diese jedoch in ihrer ganzen Tragweite.
Die Wegbegleiter Kobbes stehen jeweils für eine mögliche, wenn auch
nicht immer geglückte Strategie zur Bewältigung dieser Erfahrungen.
Darauf macht Sahl den Leser gleich zu Anfang des Romans aufmerksam. Auf den
ersten Seiten stellt er die Leidensgenossen des Erzählers vor als...
die
Narren und Propheten, die Deuter und Schriftgelehrten, alt und grau geworden
im Parteidienst der Humanität, verfolgt, mißhandelt, um die halbe
Erde gejagt, aber immer noch eifernd, deutend, protestierend, jeder von ihnen
ein geschlagener Feldherr, der nachzuweisen versucht, daß seine Strategie
die richtige gewesen ist.(25)
Die
Figuren des Romans sind als Ideenträger zu verstehen und leiden deshalb
an einer karikaturhaften Überzeichnung. Für diese Einschätzung
sprechen unter anderem die den Figuren zugedachten, assoziationsträchtigen
Namen wie Einsiedel, Hartmann, Krana, Hackenschmidt, Grützbach, Wachtel,
Ash, Kleinpogge, Scharf oder Thora. Darüber hinaus benutzt Sahl, wie Sigrid
Kellenter in ihrem Aufsatz "Hans Sahls Roman Die Wenigen und die Vielen" richtig
bemerkt, das von "Thomas Mann so kunstvoll zur Charakterisierung bestimmter
Personen angewandte Leitmotiv als strukturierendes Element" (32). Die beschriebenen
Figuren sind, gleich, wo man ihnen begegnet, leicht wiederzuerkennen: Der Arbeiter
Hackenschmidt verrät sich, indem er nach jedem Auftritt die "Internationale" pfeift.
Minna Hartmann vom Bund entschiedener Schulreformer zeichnet sich durch den
häufigen Gebrauch des Adjektivs entschieden aus. Dr. Thora blickt beständig
aus "gütigen, verängstigten" Augen, während er den Stummel seines
kleinen Fingers in seiner Rocktasche zu verbergen sucht. Ignazio Morton sticht
durch einen schreiend-bunten Kleidungsstil ins Auge, Luise aufgrund verrutschter
Strumpfnähte und einer bizarren Hutmode. Mergenthin ist gekennzeichnet
durch eine klaffende Narbe am Schädel, wohingegen Jerobeam Kulp abstehende
Ohren und ein Säuglingsgesicht sein eigen nennt.
Grundsätzlich fehlt es den Figuren an Tiefe. Anders als bei der Beschreibung
der Eltern, bei der Sahl einen Einblick in die Motive und Gedankenwelt seiner
Figuren zuläßt, erscheint die Darstellung der Freunde und Wegbegleiter
Kobbes verflacht. Sie sind stilisiert zu Typen. So porträtiert Sahl die
Figur des Ignazio Morton als Zyniker, als ewigen Protestanten und verschämten
Moralisten, der seinen Idealen abschwor und in ein politisches Niemandsland
flüchtete (24). Nathalie Ash wird zu einer Frau reduziert, die unerbittlich
zu ihren Grundsätzen steht und ihren privaten Kampf um die "Seele des
Arbeiters" fortsetzt. "Sie ist die Konspiration selbst" (24), wie Sahl seinen
Erzähler feststellen läßt. Krana verkörpert den unbeirrbaren
Doktrinär der Kommunistischen Partei. Als Sohn aus bürgerlichem Haus
schloß er sich, überzeugt vom Untergang seiner Klasse, einer Bewegung
an, die bereit war, "mit Tanks und Kanonen gegen das soziale Unrecht" (29)
vorzugehen. Einsiedel wird als anarchischer Sonderling etikettiert, als Pessimist,
der, ausgestattet mit einem "fast flagellantischen Trieb zur Wahrheit, zum
'Bekennen' um des Bekennes willen" (28), dem tiefen geisten Genuß des
Neinsagens frönt. Der Antiquar Borinski hingegen nimmt die Position des
Individualisten, des militanten Einzelgängers, ein. Er wird als "seltsame
Mischung von Feinschmecker und Weltfeind, von Leidendem und Genießendem" (163)
beschrieben, der sich keiner der herrschenden Ideen und Wertvorstellungen anschließen
kann und es stattdessen vorzieht, in seinem Elfenbeinturm zu verweilen.
Sahl verhindert, daß die Charakterisierungen mehr als eine Skizze reißen.
Sie bleiben karikaturhaft und oberflächlich. Das Bild, das sich der Leser
von den Figuren machen kann, ersteht aus den Handlungen und Äußerungen,
die diese in bestimmten Situationen machen. Durch diese Reduktion auf Typen
und Ideenträger, erreicht Sahl allerdings, daß sich der Blick des
Lesers auf das Verhalten der Figuren lenkt.
Wie schon angedeutet, ist es ein zentrales Anliegen des Romans, die Wirkung
existentieller Erfahrungen wie Vereinsamung, Verlassenheit und Alleinsein auf
das Verhalten der Emigranten darzustellen. Diese Erfahrungen, immer begleitet
von der Angst vor dem Alleinsein, werden bei Sahl zum Auslöser oftmals
negativer Handlungen.
Vielen Exilanten bleibt als letzte Bastion gegen die allzu häufig empfundene
Demütigung nur der Rückzug auf politische Überzeugungen, die
sie aus Deutschland mitgebracht haben. Kobbe spricht zu Recht von einem in
die Politik verirrtem Heimweh (20). Dieses Heimweh bezieht sich nicht allein
auf das Land, sondern auch auf die Sehnsucht nach der gesellschaftlichen Position,
die man einmal innehatte, nach dem Einfluß, den man einmal besaß und
der Bedeutung, die man sich zuschreiben konnte. So ermöglichen die politischen
Organisationen und lockeren Verbindungen den Verfolgten, die Illusion von der
eigenen Gewichtigkeit aufrechtzuerhalten. Sie dienen als Forum zur Darstellung
der eigenen Person und trösten über die Tatsache hinweg, daß man
am Tage Damenhandtaschen in einer Fabrik zuschneiden muß, Kunstblumen
verkauft oder selbstgebackene Kekse an den Mann bringt. Die Versammlungen und
Organisationen vermitteln ein Gefühl der Geborgenheit. Man weiß sich
aufgehoben und akzeptiert in der Gemeinschaft. Auf dieses Motiv stößt
Sahl den Leser in teilweise konstruiert wirkenden Zusätzen. So beschreibt
er Kranas Treue zur Partei als Angst vor dem Alleinsein, seinen Haß auf
die Demokratie als Haß gegen die Vereinsamung (29). Das Erscheinen von
Nathalie Ash bei der Versammlung im New Yorker Exil läßt Kobbe darauf
schließen, daß auch sie, trotz Bruchs mit der KP, in der "einsamsten
aller Städte nicht ganz ohne Menschen auskommen konnte" (24). Und der
Arbeiter Hackenschmidt gesteht Kobbe, kurz bevor er die Nachricht vom Nichtangriffspakt
zwischen Hitler und Stalin erfährt, daß er ohne Glauben nicht leben
könne: "Ich muß etwas haben, woran ich mich halten kann" (201).
Die schlimmste Strafe, die einen Exilanten folglich treffen kann, ist der Ausschluß aus
der Gruppe - das Exil im Exil. Dies wird eindrucksvoll an der Person des Dr.
Blank demonstriert. Ausgestoßen aus der Kommunistischen Partei, mit Sprechverbot
und Nichtbeachtung gestraft, arbeitet er bis zu seinem Tod an einer Rechtfertigungschrift,
unaufhaltsam von einer Zukunft träumend, "in der er wieder mit ihnen an
einem Tisch sitzen wird, geliebt und geachtet, eingehüllt in den warmen
Dunst, in die Stallwärme einer großen menschlichen Gemeinschaft,
die über die ganze Erde geht" (169).
Die Beweggründe für das Verbleiben in den politischen Verbänden
sind verständlich. Tragisch werden sie in dem Augenblick, in dem die Angst
vor dem Verlust der Gruppe zur Kritiklosigkeit gegenüber der Gruppe und
den von ihr vertretenen Ideen führt. Bis auf wenige Ausnahmen scheinen
die Figuren nicht mehr in der Lage, ihre ins Exil geretteten, aber eben auch
durch diese Erfahrung fragwürdig gewordenen Gesinnungen zu überprüfen,
geschweige denn die Positionen Andersdenkender zu akzeptieren. Eher unbewußt
verfallen sie der politischen Orthodoxie. Die Ideologie, die Idee an sich,
wird zum höchsten Gut, das es um jeden Preis zu wahren gilt. Anstelle
eines ausbalancierten Bilds tritt Schwarz-Weiß-Malerei. Die politische
Wirklichkeit wird auf eingängige Parolen reduziert. Grützbach zum
Beispiel wird nicht müde, seinen unerschütterlichen Glauben an die
Massen und ihre historische Mission zu beschwören (25), Hackenschmidt
erklärt, daß die Grundlage jeder neuen Moral ein fait accompli sei,
da vor jedem Recht ein Unrecht stehe (201). Krana vereinfacht die Komplexität
menschlichen Zusammenlebens gar auf die Formel "Mit Feinden kann man sich versöhnen
- mit Freunden nie" (178): eine erweiterte Auslegung der von Lenin geprägten
Parole "Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns".
So ist es nachzuvollziehen, daß Kobbe im Pariser Exil anläßlich
eines Abends im Literaturverein von einem "Pandämonium menschlicher und
geistiger Verelendung" spricht. Diese Ansicht begründet er mit einer Vielzahl
von Argumenten: Die ewige Frage des Menschen "Woher komme ich, wohin gehe ich?" werde
von den verhinderten Verschwörern mit dem Hinweis auf die bevorstehende
Weltrevolution und unter Bezugnahme auf die letzten Verfügungen des Zentralkommitees
erledigt. Das Verlassensein der Kreatur, ihre Angst vor dem Tod seien bürgerliche
Vorurteile und die Religion nichts als Opium fürs Volk. Selbst bei harmlosen
Kunstvorträgen, klagt Kobbe, müsse der Wahnsinn Hölderlins als
ein Produkt "kleinbürgerlicher Ausweglosigkeit" und "der Aufstand der
Farben in der modernen Kunst als ein Symbol für die Widersprüche
innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft" erklärt werden (169).
Die menschliche und geistige Verelendung, die Sahl durch seinen Erzähler
Kobbe zum Ausdruck bringt, offenbart sich noch in weiteren Versammlungen. Dieser
Eindruck wird dem Leser nicht nur über die Inhalte der vorgebrachten Reden
vermittelt, sondern wiederum unter zu Hilfenahme formaler Mittel. Das Stilmittel
ist auch hier die Wiederholung. Dies zeigt sich deutlich beim Vergleich der
Kundgebung für die "Opfer der Unterdrückung" im Pariser Exil mit
der Versammlung der "Neuen Warte" im New Yorker Exil: Die Pariser Versammlung
eröffnet Mathilde Schwaninger mit einer musikalischen Darbietung, begleitet
von Julian Wachtel am Klavier. Es folgt ein Vortrag, gehalten von Dr. Grützbach.
Darauf trägt Einsiedel seine Einwände vor und wird niedergeschrieen.
Nathalie Ash versucht sich Gehör zu verschaffen und wird kurzerhand von
Kranas Leuten aus dem Saal entfernt. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, kündigt
Krana die "Stimme von drüben" an, die die kurz bevorstehende Befreiung
vermeldet. Und zum Abschluß tragen Wachtel und Schwaninger ein Rebellenlied
des Dichters Jochen Scharf vor (166).
Die Versammlung der "Neuen Warte" in New York, zu der alle noch lebenden Wegbegleiter
Kobbes erscheinen, um über das Thema "Die deutsche Revolution" zu diskutieren,
verläuft etwas gesitteter. Obwohl mehr als sieben Jahre zwischen den beiden
Veranstaltungen liegen, ist der Ablauf an sich jedoch erschreckend ähnlich.
Auch in New York eröffnet Mathilde Schwaninger den Abend mit Gesang. Daraufhin
hält Dr. Grützbach eine Rede. Einsiedel meldet Protest über
den geistigen Bankrott der Linken an. Er wird unterstützt von Nathalie
Ash. Bei passender Gelegenheit fällt Krana den Rednern ins Wort, um die
Kontrolle über die Versammlung zurückzugewinnen, während sich
die einstmals gefeierte Operndiva Mathilde Schwaninger nervös auf ihren
abschließenden Auftritt vorbereitet (21-31).
Fast scheint es, als wären die Erfahrungen des Exils spurlos an den Menschen
vorübergegangen, als hätten sie sich im Kern nicht geändert.
Dem Leser offenbart sich ein Bild sinnlosen Widerstreits der Meinungen. Unfähig,
aus diesem Kreislauf auszubrechen, verharren die Figuren auf Positionen, die
mit dem Grundgehalt der Ideen, die sie vertreten, nicht mehr viel gemein haben.
Kobbe geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt: "Die Ansichten,
die sie vortragen, waren schon vor 1933 veraltet. Aber sie leben davon, sie
zu wiederholen, wie ein Schauspieler, der immer in derselben Rolle auftritt" (20).
Ungeachtet ihrer inneren Verfassung, die tief geprägt ist von den Erlebnissen
der Verfolgung, der Heimatlosigkeit und Einsamkeit, haben die Exilanten ihre
Gesinnungen und ihre Urteile nicht hinterfragt, sondern vielmehr konserviert.
Die meisten haben sich vor die Alternative stellen lassen, entweder politisch
oder menschlich fühlende Wesen zu sein und ihre geistige Freiheit freiwillig,
ohne es selbst wahrzunehmen, zugunsten linksradikaler Heilslehren geopfert.
In diesem Zusammenhang lohnt es, ein paar Seiten zurückzublättern.
Dort findet man Ignazio Morton, der auf dem rettenden Dampfer nach Amerika
die provokante These in die Weite des Atlantiks schreit: "Alle Ethiker sind
Verbrecher! (...) Ebenso alle Weltverbesserer, Humanisten, Radiokommentatoren,
Pazifisten et cetera et cetera (...) Was haben sie der Menschheit eingebracht?
Nichts als Kriege. Bürgerkriege, Hungersnöte und Inquisitionen!" (15).
Und tatsächlich scheint die sich anschließende Schilderung der New
Yorker Versammlung diese These bekräftigen zu wollen. Auch Kobbe kommt
zu der Erkenntnis, daß er derartiges nun zur Genüge erlebt hätte, "hier
und drüben und überall, diese rauchigen Versammlungen, diesen Tumult
der Meinungen und Begriffe, dieses "Du sollst" und "Du mußt" und "Du
darfst nicht", dieses Für- und- wider- Etwas, das mit den Menschenrechten
begann und mit der Guillotine aufhörte" (30).
Da der Roman praktisch mit der New Yorker Versammlung beginnt, nimmt Sahl zu
Anfang ein Ergebnis vorweg, das am Ende der Betrachtungen des Erzählers
Kobbe über seine Weggefährten steht. So bleibt letztlich zu klären,
wie die Entwicklung des Erzählers, der sich so offensichtlich vom Treiben
seiner Begleiter abwendet, verläuft und was am Ende von Kobbes Weg steht.
Auch Kobbe zählt sich zu den Vertretern der kommunistischen Idee. Er beschreibt
sich einer Generation zugehörig, die sich gelobt hatte, dem Bestehenden
den Kampf anzusagen, neue Formen des Ausdrucks zu finden, sowohl im gesellschaftlichen
als auch im kulturellen Bereich (49/50). Doch die Unversöhnlichkeit, mit
der es vielen seiner Genossen gelingt, auch nach der Machtergreifung durch
die Nationalsozialisten zu ihren ideologischen Prinzipien zu stehen, ist Kobbe
nicht vergönnt. Er kann sich einer Mitschuld an den Entwicklungen, die
zur Machtergreifung und Demontage der gesellschaftlichen Ordnung führten,
nicht entziehen. Kurz bevor er Deutschland verläßt, zieht er eine
erste Bilanz und erkennt, daß auch seine Partei bereit ist, Tausende
für eine Idee zu opfern: "Wir sprachen von Gerechtigkeit und meinten:
Gerechtigkeit für einen, nicht für alle und jeden. Wir glaubten an
die Gewalt der "guten Sache", aber eine Gewalt ist so schlimm wie die andere,
und wir müssen wieder ganz von vorn anfangen" (120/121).
Die Pluralform bestärkt die Vermutung, daß Kobbe diesen Neuanfang
zunächst im Einklang mit der Kommunistischen Partei vollziehen zu können
glaubt. Er sieht seine Aufgabe darin, das Ausland, insbesondere das französische
Volk, über Hitler aufzuklären (156). Die benötigte Unterstützung
meint er in der Partei und in der Vereinigung mit Menschen ähnlicher Gesinnung
zu finden. Deshalb ist er bereit, die Widersprüche, die ihm während
der Versammlungen vor allem bezüglich der Parteilinie bewußt werden,
als notwendige Übel zu akzeptieren. Nur so läßt sich erklären,
warum er, nachdem er die Abende des Literaturvereins überzeugend als "Pandämonium
menschlicher und geistiger Verelendung" entlarvt hat, die Ansicht äußert: "Ich
bin jedoch entschlossen, mich nicht an Kleinigkeiten zu stoßen" (170).
Doch sind es gerade diese "Kleinigkeiten", die Kobbe in einen ständigen
Konflikt mit sich und der Umwelt bringen. Er gehört zu den wenigen, die
sich nicht zum Sprachrohr einer Parteidoktrin machen lassen und darüber
das Menschsein vergessen. Ob es sich um Dr. Blank, Dr. Thora, Gilda Langer
oder "die Baronin" handelt, er bezeugt menschliche Anteilnahme und Betroffenheit,
versucht zu helfen, wo er helfen kann. Es sind immer moralische Beweggründe,
die Kobbe gegen die Ideologie und deren Vertreter antreten lassen. So bleibt
nicht aus, daß Kobbe angesichts der Moskauer Prozesse zu der ketzerischen
Vermutung gelangt, das Scheitern des 'Experiments' sei nicht die Schuld des
einzelnen Menschen, sondern in der Idee selbst begründet (176). Er muß sich
eingestehen, daß er die Art der politischen Auseinandersetzung, zu der
er sich im Umfeld der Kommunistischen Partei genötigt sieht, nicht länger
vor sich verantworten kann. Diese Erkenntnis bewegt Kobbe schließlich
zum Parteiaustritt. Herausgelöst aus seinen alten Zusammenhängen,
werden in ihm Ahnungen wach von dem fast vergessenen "Recht zu zweifeln, das
am Anfang jeder Philosophie steht, und von dem Glück, allein zu sein in
einer Zeit, in der es besser ist, wenn auch vielleicht gefährlicher, zu
den wenigen zu gehören als zu den vielen" (179).8
Die zweite Bilanz, die Kobbe anläßlich dieses entscheidenden Einschnitts
in sein Leben zieht, wirkt konkreter als die erste vor der Flucht aus Deutschland.
Auch hier benutzt Sahl wieder das Stilmittel der Wiederholung: Kobbe erklärt
seine Mitschuld "an jenem geistigen Verrat, der aus der menschlichen Verzweiflung
Kapital schlug, um einer fragwürdigen Theorie zur Macht zu verhelfen" und
verlangt, man müsse wieder "ganz von vorn anfangen". Der postulierte Neuanfang
ist jetzt jedoch keine bloß verbale Forderung mehr. Kobbe sieht ihn darin, "im
eigenen Bereich das Nützliche und Notwendige zu tun, an die 'Zukunft'
der nächsten Stunde, des nächsten Augenblicks zu denken" (179).
Als Einsiedel im New Yorker Exil die Feststellung trifft, daß auch die
Amerikaner nicht wüßten, worum es in diesem Krieg ginge, taucht
das Motiv des Neuanfangs ein weiteres Mal auf. Einsiedels Äußerung
veranlaßt Kobbe, darüber zu reflektieren, ob sie, die Emigranten
einschließlich seiner eigenen Person, denn wüßten, worum es
ginge. "Um Freiheit? Menschenwürde? Um den Kampf zwischen den 'hellen'
und 'dunklen' Mächten? Wissen wir denn so genau, worum es geht? Können
wir es denen erklären, die es noch nicht wissen?" In den Begriffen 'Freiheit',
'Menschenwürde', 'Verfolgung', 'Unterdrückung' und 'Kampf gegen das
Böse' findet Kobbe nur noch Worte unbestimmten Inhalts und bekennt, man
müsse wieder von vorn anfangen. "Erzählen. Darstellen. Die verschütteten
Begriffe abklopfen. Beispiele geben." Vor allem aber, nichts voraussetzen (224).
Das letzte Postulat unter der Wendung "von vorn anfangen" äußert
Kobbe nach der Beendigung des Krieges gegenüber dem Sohn seiner Schwester
Katarina, Karl Mergenthin. Auf dessen Frage: "Aber was soll denn nun geschehen?",
antwortet Kobbe:
Alles
noch einmal überprüfen. Nichts für gegeben hinnehmen. Wachsam
sein, ohne Vorurteile, gescheit und gütig zugleich und nie das eine ohne
das andere, der Mehrheit mißtrauen und der Minderheit dazu verhelfen,
gehört zu werden, die Schwachen und Kranken beschützen und den Starken
ein unbequemer Partner sein, immer wieder fragen und immer von neuem wissen,
daß es nicht eine Antwort gibt, sondern viele, und daß nichts beständig
ist in diesem Meer der Ungewißheit. (283)
Dies
liest sich wie ein Vermächtnis an die nächste Generation, scheint
die Lösung in sich zu bergen, die Kobbe gesucht hat. Um so erstaunlicher
wirkt sein Entschluß, nun, nach Ende des Krieges, nicht nach Deutschland
zurückzukehren. Doch bei genauem Hinsehen ist dieser Schritt folgerichtig.
Am Ende des Krieges, auf das die Emigranten solange gewartet haben, stehen
keine neuen Propheten. Aus dem Leiden sind keine neuen Lehren hervorgegangen
(275). Die alten Irrtümer bleiben bestehen. Die Überlebenden kehren
zurück, bereit, dort wieder anzuknüpfen, wo sie zwölf Jahre
zuvor aufgehört hatten. Kobbe ist der einzige Überlebende,9 der
- wahrhaft heimatlos - keinem Land, keiner Nation, keiner Klasse, keiner Partei
und keiner Ideologie verhaftet ist. Ihm ist das Exil "zu einem geistigen Zustand,
einer Lebensform geworden, eine(r) Art von passive(m) Widerstand gegen eine
Welt, die nur noch in Kräften und Gegenkräften, in Bewegungen und
Gegenbewegungen dachte" (285). An dieser letzten Formulierung wird deutlich,
daß Kobbe sein Verbleiben im Exil nicht als Abkehr von der Gesellschaft
verstanden wissen möchte, sondern als politische Handlung. Es ist seine
Form des Protests, um darauf aufmerksam zu machen, daß der Krieg nicht
geendet hatte. Für ihn wurden nicht die Feinde besiegt, sondern "die Machtlosen
aller Länder, die Wortführer der Wortlosigkeit" (274). Der Kampf
wurde zwischen Verbündeten geführt, die, trotz aller Leiden, ihre
Meinung apodiktisch als die einzig mögliche Wahrheit hinstellten und so
versäumten, den Grundstein für eine bessere Welt zu legen, eine Welt,
die sich auf Toleranz gründet.
Abschließend läßt sich sagen, daß Kobbes Entwicklung
im Gegensatz zu der seiner Wegbegleiter steht. Er verkörpert die Ausnahme,
den Einzelgänger zwischen den Fronten, der bemüht ist, zu sich selbst
zu finden, seine sehr humanistisch geprägten Wertvorstellungen in einen
Zusammenhang mit den geschichtlichen Abläufen zu setzen, Anknüpfungspunkte
zu finden und Lösungsmöglichkeiten, die sich nicht in radikalen Positionen
erschöpfen. Am vorläufigen Wegende des Erzählers Kobbe steht
die Einsicht, nichts zu wissen. Er bekennt sich zu seiner Ratlosigkeit, die
ihn angesichts der Ereignisse befällt und Ausdruck seines Glaubens ist,
ein Objekt fremden Handelns zu sein, das erst im nachhinein versteht, was mit
ihm geschehen ist (283). Kobbes Bekenntnis zur Ratlosigkeit, das immer wieder
zum Überprüfen des einmal Gedachten zwingt, ist im eigentlichen Sinn
die Voraussetzung für eine Lösung, auf deren Suche sich der Erzähler
befindet. Aus dieser Überlegung heraus wird die Distanz verständlich,
mit der Hans Sahl seinen Erzähler berichten läßt. Immer wieder
nimmt Kobbe Abstand von den Handlungen und Ereignissen, die er schildert. Er
kommentiert, reflektiert, beobachtet, beleuchtet und versucht, seine Erlebnisse
in Zusammenhang mit allgemein menschlichen Fragestellungen zu setzen. Hieraus
ergibt sich ein minutiöses Bild seiner Zeit. Der Schluß jedoch bleibt
offen. Die Nachzeichnung dessen, wie Kobbe seine Situation erlebt, führt
den Leser zu keinem Ergebnis. So entsteht der Eindruck bedrückender Ausweglosigkeit,
die als Alternative zu einer Welt, die sich aus starren, politischen Blöcken
zusammensetzt, das Dasein des Schiffbrüchigen bietet, getreu des von Ortega
y Gasset verfaßten Satzes "Die einzigen wahren Gedanken sind die Gedanken
der Schiffbrüchigen", mit dem Sahl sein erstes Kapitel überschreibt.
Im Blickfeld steht der Weg eines Menschen, dem am Ende nur die Verwunderung
bleibt.
Anmerkungen
1 |
Im Nachwort
zu Sahls Gedichtband Wir sind die Letzten bezeichnet Fritz Martini
das Buch Die Wenigen und die Vielen als "den Roman des Exils überhaupt".
Diese Aussage greift Sigrid Kellenter zunächst als Frage formuliert
auf, um sie am Schluß ihres Aufsatzes zu bestätigen.
[zurück] |
2 |
Einzelheiten über
diese Rettungsaktionen und die Situation in Frankreich finden sich unter
anderem bei von zur Mühlen. Beachtenswert ist auch der von Varian
Frey selbst verfaßte Bericht. [zurück] |
3 |
Brief vom 24.4.1977 an Skwara (Skwara 171-2). [zurück] |
4 |
Auch dies
ist ein Entschluß, der im Einklang mit Hans Sahls eigener Lebensgeschichte
steht. Sahl lebte fast fünfzig Jahre in New York, mit einer Unterbrechung
von fünf Jahren (1953-1958), in denen er versuchte, in der Bundesrepublik
Fuß zu fassen. Erst 1989, vier Jahre vor seinem Tod, kehrte er
endgültig nach Deutschland zurück. [zurück] |
5 |
Diese Formulierungen
tauchen im Text an mehreren Stellen auf. Sie werden in der Hauptsache
von Grützbach vorgebracht (74, 75, 161). [zurück] |
6 |
Diese Darstellung
des Selbstverständnisses der Exilierten findet sich in vielen Selbstzeugnissen
und Dokumentationen über die Exilzeit bestätigt. Nachzulesen
zum Beispiel bei Berg. Dort heißt es: "Die These von der Kurzlebigkeit
des faschistischen Regimes wurde von Autoren mit unterschiedlichem politischen
Profil aus unterschiedlichen politischen Motiven mit einer Reihe wiederkehrender
Argumente vertreten: Sollte das Regime nicht binnen kurzem an seiner
eigenen Unfähigkeit oder der Uneinigkeit seiner Führer zugrunde
gehen, so würde es durch Intervention des demokratischen Auslandes
oder die Revolution der deutschen Arbeiter gestürzt werden, die
- so die insbesondere von Kommunisten vertretene These - durch die Machtübergabe
ohnehin nur vorübergehend abgewendet worden war"(423). [zurück] |
7 |
Im Allgemeinen
werden die unter Exilbedingungen zustandegekommenen literarischen Auseinandersetzungen
mit dem Faschismus in zwei Gattungen unterschieden: den Zeitroman und
den historischen Roman. In den ersten Jahren des Exils nahm der Zeitroman
eine zentrale Stellung ein, also die direkte Schilderung der Gegenwart
und hier insbesondere die Schilderung des nationalsozialistischen Alltags
in Deutschland. Kennzeichen der Literatur in der zweiten Phase des Exils
ist das Nebeneinander von zeitgeschichtlichen und historischen Stoffen.
Mit fortdauerndem Exil wuchsen die Schwierigkeiten, die Verhältnisse
in einem totalitären System glaubwürdig darzustellen, da man
nicht mehr auf das eigene Erleben, sondern auf Gehörtes und Gelesenes
zurückgreifen mußte. Eine immer größer werdende
Zahl von Autoren wandte sich darum historischen Stoffen zu, um Aussagen über
die Gegenwart zu machen. Hierzu zählen an prominentester Stelle
Heinrich Manns Henri Quatre, Thomas Manns Tetralogie Joseph
und seine Brüder und Lion Feuchtwangers Josephus-Trilogie.
Beim Zeitroman wurden ab der zweiten Hälfte der dreißiger
Jahre in zunehmendem Umfang die Exilerfahrungen thematisiert. Das bekannteste
Buch dieses als Exilliteratur bezeichneten Genres ist Anna Seghers' Roman Transit.
Siehe dazu Berg (419-466). Ausgehend von der üblichen Zweiteilung
in direkte Schilderungen der Gegenwart (Zeitroman) und indirekte, historisch
oder geographisch verschobene Darstellungen der Problematik (historischer
Roman), entwickelte Joseph P. Strelka eine Vierertypologie. Er unterteilte
in direkt oder indirekt aktualitätsbezogene Darstellung und in aktualitätsentrückte
Darstellung mit indirekten oder direkten Gegenwartsbezügen. Siehe
dazu Strelka (95-106). In Anlehnung an diese Terminologie ordnet Sigrid
Kellenter Sahls Roman dem Typus 1, der direkt aktualitätsbezogenen
Darstellung zu. Durch die Betonung allgemein menschlicher, überzeitlicher
Erfahrungen und Reaktionsweisen reicht er, nach Kellenter, jedoch in
den Typus 2 hinein, also die indirekt aktualitätsbezogene Darstellung.
Siehe dazu Kellenter (29). [zurück] |
8 |
Wenn Kobbe
von dem fast vergessenen "Recht zu zweifeln" spricht, das er sich nach
Austritt aus der Kommunistischen Partei wieder zugesteht, so wird hier
noch einmal verschlüsselt auf die durch das Klammern an starre Parteidoktrinen
entstandenen Verdrehungen und Verirrungen innerhalb der Partei hingewiesen.
[zurück] |
9 |
Die Formulierung "einziger Überlebender" wurde
gewählt, da die Figuren Morton und Borinski, die wie Kobbe darum
bemüht waren, jeder Form der politischen Instrumentalisierung auszuweichen,
vor Ende des Krieges Selbstmord begingen.
[zurück] |
Literaturverzeichnis
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Frankfurt am Main: Fischer, 1981.
Berglund, Gisela, Deutsche Opposition gegen Hitler in Presse und Roman des
Exils. Eine Darstellung und ein Vergleich mit der historischen Wirklichkeit.
Stockholm: Almquist und Wiksell, 1972.
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in Marseille 1940/41. München: Carl Hanser, 1986.
Holthusen, Hans-Egon, "Geschichte einer Emigration", in: Neue Züricher
Zeitung, 19.6.1960.
Kellenter, Sigrid, "Hans Sahls "Die Wenigen und die Vielen". "Der Roman des
Exils überhaupt"?, in: EXIL, Forschung, Ergebnisse, Erkenntnisse 2 (1982),
S. 26-38.
Koeppen, Wolfgang, "Der Zivilist auf der Flucht", in: Süddeutsche Zeitung,
19./20.3.1960.
Krispyn, Egbert, "Exil als Lebensform", in: Exil und innere Emigration II,
Internationale Tagung in St. Louis, hrsg. von Peter Uwe Hohendahl und Egon
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Muehlen, Norbert, "Der Einzelgänger zwischen den Fronten", in: Die
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von zur Mühlen, Patrik, Fluchtweg Spanien Portugal. Die Deutsche Emigration
und der Exodus aus Europa 1933-1945. Bonn: J.H.W. Dietz, 1992.
Pinthus, Kurt, "Ein ungewöhnlicher Exilroman", in: Aufbau XXV,
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Reich-Ranicki, Marcel, "Elegischer Abgesang eines enttäuschten Europäers",
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Sahl, Hans, Die Wenigen und die Vielen. Roman einer Zeit. Hamburg: Luchterhand,
1991, 3. Aufl..
---, Wir sind die Letzten. Veröffentlichung der Deutschen Akademie
für Sprache und Dichtung. Darmstadt und Heidelberg: Lambert Schneider,
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Schnurre, Wolfdietrich, "Flucht in die Humanität. Zu Hans Sahls Zeitroman",
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Serke, Jürgen, Die verbrannten Dichter. Frankfurt am Main: Fischer,
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Skwara, Erich Wolfgang, Hans Sahl. Leben und Werk. New York, Frankfurt
am Main und Berne: Peter Lang, 1986.
Strelka, Jospeh P., "Zum Roman der deutschen Exil-Literatur seit 1933", in:
J.P. Strelka, Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst. Bern und München:
Franke, 1977, S. 95-106.
Vortriede, Werner, "Vorläufige Gedanken zu einer Typologie der Exilliteratur",
in: Akzente 15, Nr. 6, 1968, S. 556-575.
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